Eroberung


Der Krieg ist vorbei und man munkelt, Karlsruhe sei  - inoffiziell – für 3 Tage zur Plünderung freigegeben. Niemand weiß so recht, was das bedeuten soll. Schließlich leben wir nicht mehr zu Zeiten des dreißigjährigen Krieges. Es gibt auch keine Muße, lange darüber nachzudenken. Jeden Tag müssen 10 Menschen ernährt werden, dazu müssen Lebensmittel herbeigeschafft werden, man muss an Kleidung und  Heizmaterial für das große Wäschekochen und an so vieles andere denken, jeden Tag aufs Neue.

Meine Mutter ist um diese Zeit höchstens 33 Jahre alt – nach heutigem Maßstab eine blutjunge Frau. Eines Tages beschließt sie, zur Ergänzung des Holzvorrats die mächtigen Scheite, die von irgendwoher gekommen sind, klein zu hacken. Im Hof gibt es genügend Platz dafür. Neben der großen Toreinfahrt bzw. etwas weiter hinten ist eine Teppichklopfstange angebracht worden, die wir Kinder mit Vorliebe zum Klettern und Hangeln und Balancieren benutzen. Aber heute ist sie allein. Alle Kinder sind in der Schule, nur ich als die Kleinste bin oben in der Wohnung mit der Tante.
Die Sonne scheint.
Bedächtig nimmt meine Mutter einen Klotz nach dem anderen, schwingt das Beil und spaltet ihn mit einem oder zwei Schlägen. Sie mag diese Arbeit.
Plötzlich sieht sie, als sie sich wieder zu dem Holzhaufen umdreht,  jemanden in der Einfahrt. In geduckter Haltung steht dort ein Soldat, unter dem Arm eine schussbereite Waffe, die auf sie gerichtet ist. Noch ist er zu weit weg, aber er nähert sich langsam, schleichend, als wittere er den Feind von allen Seiten. Meine Mutter hat noch immer das Beil in der Hand und rührt sich nicht. Beim Näherkommen kann sie ein furchtsames Kindergesicht unter der übergroßen Schildmütze erkennen. Die beiden starren sich an. Sein Gesicht ist schwarz. Ihr fällt ein, dass von Franzosen und Marokkanern die Rede war, die hier gekämpft haben.
Wie fast immer in angespannten Situationen, fängt sie plötzlich an zu lachen. Sie winkt ihn heran und sagt auf Französisch: „Schmeiß das blöde Ding da weg und hack lieber mein Holz. Du kannst das vielleicht besser als ich.“ Erst begreift er nicht. Aber als sie ihm tatsächlich das Beil reicht, riskiert auch er ein kleines, erleichtertes Lächeln. Die Waffe landet im Gras. Mit kindlichem Bubeneifer fängt er an Holz zu hacken. Als er fertig ist, trägt er ihr alles in die daneben liegende  Waschküche und schichtet es ordentlich auf. Nur ein kleinerer Rest soll nach oben.
Fast wäre er ohne seine Knarre gegangen. Aber dann steigen sie einträchtig nach oben, er mit dem Holz, sie mit Beil und Waffe. Ich staune über den neuen Spielkameraden. Und ebenso staunt er  -  besonders über meine weißblonden Locken. Meine Mutter bedeutet ihm, sich zu setzen, während sie irgendetwas sucht, was man ihm anbieten könnte – zum Dank. Aber da ist er schon in eines meiner Bilderbücher versunken, die ich ihm zeige, hält sie unwissentlich  verkehrt herum, ohne es zu merken und freut sich, wenn er (dennoch) etwas erkennt. Offenbar hat er Geschwister und ist selber kaum der Kinderstube entwachsen. Die freundliche Atmosphäre scheint ihm die Zunge zu lösen. Als meine Mutter ihn nach seinen Eltern und seiner Herkunft fragt, stolpert es aus ihm heraus: „Papa bum-bum-bum weg. Mama bum-bum-bum weg. Haus kaputt. Alles kaputt.“ Sein Französisch ist fragmentarisch, sein Gesicht ratlos.
Da fällt sein Blick auf eine Schere, die auf dem Tisch liegt. Meine Mutter sieht es und hält die Luft an, als er mit der Hand nach ihr greift. Behutsam nähert er sie meinem Kopf, ergreift eine Locke und schneidet sie rasch ab. Dann rollt er sie zusammen und verwahrt sie in der Brusttasche seiner Uniform. Bald danach verlässt er uns, nicht ohne einen Wortschwall, den man nicht verstehen kann.
Am nächsten Tag versteht meine Mutter: Er kommt wieder, kommt von nun an einige Zeit lang jeden Tag und bringt Schokolade und Weißbrot für mich. Dann sitzt er im Stuhl, schaut sich meine Bilderbücher verkehrtherum an und streicht mir über das Haar. Seine Augen sind manchmal nass. Aber er lächelt.

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